10.04.12

HENNEF [09|06|01]

Aus der mir selbst erteilten Erlaubnis, alten Kram aus rein sentimentalen Gründen wieder auszupressen, folgt hier nach Vorfilm und Prolog der erste Bericht des Tourtagebuchs. Da scheint noch ein deutlicher Hoffnungsschimmer durch. Manche meiner Freunde haben übrigens die wiederkehrende Tendenz, mich in verächtlichem Tonfall als "Träumer" zu bezeichnen.

HENNEF [09|06|01]

Es gab vor diesem Live-Debüt genau zwei gemeinsame Proben und das reicht auch aus, wenn jeder seinen Scheiß kann. Live kommt eh immer alles anders und Du kannst Dich nur auf die eigene Erfahrung und die der bestens eingespielten Kollegen verlassen. Die bestens eingespielten Kollegen kenne ich jetzt schon seit einigen Jahren, habe ein paar Covers für die Band gestaltet, einen Clip mit ihnen gedreht und war immer wieder mal zu Gast hinter der Bühne. Im März kam dann das Thema Keys bei ChroRo auf den Tisch, im April ging’s gemeinsam ins Studio und das Feeling war so vertraut, als hätte ich seit Jahren nichts anderes gemacht. Familie eben.
    Dann unterwegs mit der Band. Mann, das letzte Konzert liegt beinahe fünf Jahre zurück. Zwischendurch gab’s viele Experimente und Studiokram. Aber nichts auf dieser Welt (in Worten: NICHTS AUF DIESER WELT!!!) kann die Bühne ersetzen. Du fängst Dir den Virus ein und dann musst Du sehen, wie Du damit klarkommst. Schwierig, als Rockenroller in Würde zu altern. Ich dachte ernsthaft schon dran, eine Bluesrockcombo zu gründen, bloß um mal wieder auf die Bretter zu kommen. Stattdessen stehe ich am 9. Juni auf der Bühne in Hennef und nach ein paar Takten Vorgabe von Tino steigen wir in METAMORPHIC DREAMER ein, unser Opener und eh meine Lieblingsnummer vom PRESSURE-Album. Es ist genau wie’s sein soll: Fünf Jahre Pause sind in zwei Sekunden einfach gelöscht!
    Ein par Stunden zuvor saß ich noch zusammen mit Tom, Tino und Iris in ihrem Bus, der uns und ein bisschen Backline Richtung Köln dieselte. Wir plauderten angeregt über die Band, Science-Fiction und den weniger wichtigen Rest der Welt. Hinter uns zog Marc in seinem Volvo stur mit Tempo 120 eine Schneise für uns, quasi als nachfolgendes Pacecar. Mit stoischer Ruhe setzte er seinen Metallhaufen regelmäßig auf die linke Spur, ließ uns vor sich ausscheren und irgendwelche überladenen Sattelschlepper mit abgefahrenen Pneus und übermüdeten Truckern überholen.
    Es gab STEREO MCs, PANTERA und eine leckere Selbstgebrannte mit alten Vinylaufnahmen von HUGHES & THRALL, FISHBONE und MOJO NIXON. Bei der Bitte, dass Tom doch zu „Man Of Constant Sorrow“ vom O BROTHER WHERE ART THOU-Soundtrack die Akkorde raussuchen soll, war dann das Ende der musikalischen Bandbreite erreicht. Trotzdem noch harmlos im Vergleich zur Geduldsprobe, der ich die Mitfahrenden bei der Heimreise unterzog: NILS PETTER MOLVAER im Nieselregen hat denselben Charme wie APOCALYPTICA an tristen Novembernachmittagen. Tz, diese jungen Leute kennen an "alten" Bands echt nur SKID ROW. Seltsam, als neuer Mann der älteste zu sein.
    Hennef war leicht zu finden, der Veranstaltungsort beinahe auch und dann kamen wir in den Genuss einer perfekt organisierten Veranstaltung. Die Jungs von JAM-Productions betreuen ihre Acts wirklich vorzüglich. Beim Aufbau, quasi als kleine Erfrischung, gab es unaufgefordert ein freundlichst serviertes Kölsch. Oder muss man in Hennef "Alt" zum Dünnbier sagen? Anderswo leierst Du dem Veranstalter kurz vor der Show gerade mal zwei lausige Getränkegutscheine aus dem Kreuz. Die Kausalkette "'G'scheites Catering als Grundlage für gute Stimmung der Mucker als Grundlage für eine gute Show derselben als Grundlage für zufriedene Besucher als Grundlage für entsprechenden Umsatz dieser" scheint nicht überall in der Musikszene wissenschaftlich anerkannt zu sein.
    Trotz g'scheitem Catering (und seit einem Tag nix gefressen) brachte ich keinen Bissen runter, teile ich doch mit Harry eine seltsame Eigenschaft, und zwar die Fähigkeit zur Lampenfieberzeitreise. Diese famose Begabung versetzt uns binnen Sekunden in ein Land lang vor unserer Zeit. Wir riechen den scharfen Dunst einer großen Raubkatze oder hören das dumpfe Wummern einer Mammutherde. Die Folgen sind im Jahr 2001 eher unbrauchbar: Satte Adrenalinausschüttung an der Grenze zur Überdosis, stark erhöhte Muskeldurchblutung, Fortpflanzugsorgane ziehen sich in die Bauchhöhle zurück und es drängt der Körper, zwecks schnellerem Laufen, zu sofortiger Entleerung der Därme. Du bist jetzt zum Kampf auf Leben und Tod bereit. Oder zur Flucht gewappnet, stundenlang laufen ohne zu ermüden. Blöderweise musst Du aber einfach stehen bleiben, möglichst lächelnd und ohne einem der Umstehenden das Hirn wegzupompfen. Das ist das exakte Gegenteil von dem, was Dein Körper jetzt braucht und führt spätestens 20 Minuten vor Showtime dazu, in eine Art Duldungsstarre zu fallen. Das ist dann okayer, jedenfalls wesentlich besser als Durchfall. Denn, so wie ein Vögelchen beim Start schnell noch kackt, müssen viele der Rocker vor'm ersten Takt (hey, fast ein Jambus) noch schnell ein paar Runden über die lokale Backstageschüssel. Du bist dann irgendwann wirklich leer geschissen und trotzdem rotieren die Därme bis zum Brechreiz. Das schreit nach Betäubung. Achtung, Bundesdrogenbeauftragte, hier sehe ich Handlungs-bedarf!
    Schnitt. Mitten in der Show stellt mich Tom auf freundlichste Art und Weise als "member number five" dem Publikum vor, ich werde herzlich empfangen und bei der nächsten Nummer kackt mein Monitor ab. Die Mächte warten eben immer den besten Moment ab. Dank Marc ist ruckzuck ein Toner da, es dauert zwei weitere Songs bis statt hässlich verzerrtem Rauschen wieder Musik aus der Box kommt. Mit 17 wäre ich gestorben vor Angst. So gieße ich mir in aller Ruhe einen Schluck Chianti ein aus dem von Iris speziell für mich und diesen Tag gebauten Bühnenkoffer, begrüße meinen Kölner Freund Selim neben der Bühne und freue mich einfach, da zu sein, während onstage GGM und andere Brecher abgeliefert werden.
    Überhaupt, der Koffer. Custom made for Milano bietet er Platz für eine Flasche Wein, einen Öffner, ein langstieliges Rotweinglas, einen Kerzenständer und zwei Kerzen. Gerade recht, um die Konzerte zu zelebrieren. Maier Wuller, einem Geschlecht von Hufschmieden entstammend (das wird an dieser Stelle noch oft zu lesen sein, habe ich mir vorgenommen) und selten um einen Kommentar verlegen, ließ sich bei seinem Anblick ob Idee und Ausführung zu stummen Standing Ovations hinreißen. Ace konnte es ebenfalls kaum glauben (She did that? I mean she built it? For you? Wow!) und musste Iris in der Folge umarmen. Ob er a) nicht fassen konnte, dass eine Frau sowas kann oder b) zweifelte, ob ich den Aufwand wert sei, bleibt sein Geheimnis. Handarbeit wird jedenfalls anerkannt beim fahrenden Volk und die erkennen schließlich ihren Scheiß, wenn sie was Amtliches sehen. Hab ich schon das Wort "Familie" erwähnt?
    So ging dieser zauberhafte Tag im Ferienlager friedlich zu Ende und irgendwann hab ich mir dann die Flöte in die Muschi gesteckt. Nein, Quatsch, wollte nur sehen, ob ihr noch aufmerksam seid.
    Minuten später ist der Monitor also wieder im Lack, und ich merke, dass es schweinegute Laune macht, mit den Jungs auf der Bühne zu stehen. Ich meine, ich hab sie hundertmal von unten gesehen (kein zotiger Witz an der Stelle), stand hinter der Bühne oder daneben, hab sie gefilmt und sonstwie verwurstelt. Aber jetzt, mitten im Getümmel, der Gedanke: ich mag die Band, die gefallen mir! Auch hier sind die Mächte sofort zur Stelle und servieren mir den prächtigsten Verspieler seit Erfindung der Zwölftonmusik.
    "Kummer Dich gefälligst um's Rocken und lass den sentimentalen Scheiß für später!"
    "Okay."
    Das Konzert wogt vorbei, die Keyboarderrolle bietet viel Möglichkeit, die Leute zu beobachten. Es sind nur Nuancen, die ein gutes von einem mittelprächtigen Konzert unterscheiden. Auch wenn es heute meine erste Show ist, weiß ich, das hier gehört zu den guten. Auffallend ist, dass die Jungs noch nicht gewohnt sind, auf der Bühne zu fünft zu sein. Ich werde jedenfalls sehr selten hinter meinen Tasten besucht und beschließe, mir für ein par Songs in Zukunft eine Gitarre umzuschnallen. Bloß, um nicht so alleine zu sein. Wir spielen als letzten Song im regulären Set HURTS. Die Leute kennen die Nummer noch nicht, gehen aber trotzdem gut mit. Am Schluss übernehmen sie den Chor und wir gehen einer nach dem anderen von der Bühne. Das Publikum singt noch kurz weiter, bevor die ersten Rufe nach Zugabe kommen.
    Man könnte Traktate und Doktorarbeiten schreiben über die Zeit, die man optimalerweise verstreichen lässt, bevor man zurückkehrt auf die Bretter. Eine halbe Zigarette? Fünf Minuten? Zu schnell wirkt kindisch spielgeil und zaubert der anwesenden Musikerpolizei -vulgo: Kollegen- ein fieses Grinsen auf die Backen. Zu lange wirkt asozial abgehoben.    Hier das perfekte Rezept vom besten schlechten Keyboarder der Welt: zünde eine Zigarette Deiner Wahl an und versuche in aller Ruhe die doppelt vorhandenen Buchstaben in den Begriffen "Erektile Dysfunktion" und "Lysergsäurediäthylamid" zu zählen. Ich war beim "e" als Wuller wieder in HURTS einsetzte. Giarristen halt! Immer zu früh kommen, aber das zehnmal in einer Nacht.
    Rauf auf die Bühne und zurück in HURTS mit Vollgas. Klappt auf Anhieb. Kompliment auch an die Audience; die konnten sogar die Tonart halten! Ich hatte schon mit Sängern (?) zu tun, die das weder im Studio noch auf der Bühne schafften. STAY und sein infernalisch lauter Einspieler beenden eine Viertelstunde später das Konzert. Ein freundliches Winken, Verbeugung, runter von der Bühne, Abbau, Umbau, Zeit für die nächste Band, Backstage entern, gieriges Rauchen und Trinken und Plappern, hektische Zustandsberichte und Zoten. Irgendwann wird's ruhiger und irgendwann wird's klarer und es fühlt sich gut an und ich weiß, Nummer 5 lebt und dann, endlich, kann ich ans Essen denken.

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