08.08.12

Sommerferien

Neues vom Toten
Halbwegs entziffert


Kürzlich stand hier zu lesen:" Auf der kleinen, vom Wald umsäumten Sandinsel im Bach, der vor unserem Haus fließt, fanden Arbeiter vor nicht allzu langer Zeit die Überreste eine Mannes. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, rahmengenähte Budapester und eine abgewetzte Ledermappe die ihn, -schwer zu schätzen, aber sicher jenseits der Vierzig- wohl schon zu Schulzeiten begleitet hatte. Darin fanden sich vollgeschriebene Schulhefte und auch ausgedruckte Seiten; Notizen, Texte, Zahlen, Gekritzel, die meisten zur Unkenntlichkeit vergammelt. Wie übrigens auch der sie vermutlich einst verfassende, unbekannte Herr. Das Leibliche ist flüchtig, Schatten sind wir.

Es sollen hier nun gelegentlich einige der lesbaren Relikte das Licht der Öffentlichkeit erblicken."

Hier nun eine neu entschlüsselte Rolle, nicht aus Qumran, sondern einem Bach am anderen Ende der Welt:

Früh wach, trotz zweier Schlaftabletten. Der dämmernde Morgen wirkt unschuldig, bereit, das Beste aus sich machen zu lassen. Kühl noch die Luft überm schlafenden Pflaster, das erschöpft wirkt vom täglichen Getrappel und Geplapper. Erinnerungen an die Urlaubsfahrten als Kind...

Man schlief ein paar Stunden, eher ein fiebriges Dösen wegen der Aufregung. Dann kam die Mutter im wehenden Morgenrock über dem Nachthemd und weckte uns Kinder. Das Haus hell erleuchtet, blinzelte man gegen die grellen Lampen und das plärrende Radio. Die Glühbirnen waren nicht heller als sonst. Das Radio nicht lauter. Nur die kindlichen Sinne noch nicht abgeschliffen und alle Kanäle weit offen.

Wir saßen dann da mit riesigen Wüstenfuchsäuglein und rotzigen Nasen und schlürften unsere Milch. Nein, ich trank Kaffee seit meinem fünften Lebensjahr, meine Schwester heute noch lieber Milch oder Tee. Die Brote mit selbstgemachter Erdbeermarmelade oder Nuß-Nougat-Creme wollten nicht so recht rein, der Magen ein Schneeglöckchenblütenkelch. Der Vater konnte morgens noch nicht sprechen. Ein biologischer Defekt, vermuteten wir Kinder insgeheim. Das Oberteil des Schlafanzugs im Gummibund der Schlafanzughose, was oft zu einseitigen -er konnte ja noch nicht reden - elterlichen Diskussionen über ästhetische Zumutbarkeiten führte, versteckte er sich in Ermangelung der noch nicht ausgetragenen Tageszeitung hinter dem letzten Stern oder Jovial oder einem Blättchen der Bausparkasse. Gelesen werden musste jedenfalls. Das habe ich geerbt; ein Frühstück ohne Zeitung, ohne Information zur Nahrung ist kein ganzes.

Irgendwann erhob er sich plötzlich und zog sich samt Lektüre aufs Klo zurück. Da er durch den offensichtlich biologischen Defekt nicht in der Lage war zu sprechen, geschah dies unangekündigt und spontan. Wir Kinder fürchteten den Moment, vor allem, wenn wir versäumt hatten, vorher zu pinkeln. Er nannte die nun folgende Tätigkeit scherzhaft "abprotzen", wohl in Anlehnung an die Prozedur, eine Feldhaubitze vom Zuggerät abzuhängen. Je nach Größe und Beschaffenheit der Feldhaubitze konnte dieser urlaubsmorgenliche Prozess durchaus 20 Minuten in Anspruch nehmen. Im allgemeinen hin und her und Brote schmieren und Sunkist einpacken geschah es dabei durchaus, dass man ihn völlig vergaß. Bis das Donnern der Spülung das Ende der Sitzung verkündete. Die Tür flog auf, Vater ging mit gerollter Zeitung unterm Arm ins Bad, oder zurück in die Küche, völlig egal, ihm folgte der Pesthauch des Todes, eine fast sichtbare Luftverwirbelung, die kleinere Säugetiere sofort tötete, größere, wie uns Kinder, dazu brachte, neue Rekorde im Luftanhalten aufzustellen. Jetzt konnte er sprechen. Meist sagte er etwas wie: "So!", und damit war ja auch das meiste gesagt.

Wir hüpften auf der Straße herum, erwarteten die befreundeten Familien, genossen den Zustand, in dieser frühen Minute alles zu dürfen, die Welt zu besitzen, bevor die Sonne aufging und mit sich all die anderen Menschen brachte.

Irgendwann waren alle versammelt und der Zauber des Unberührten wurde ersetzt durch die ungewohnte Nähe. Die Erwachsenen waren wie ausgetauscht in diesen frühen Morgenstunden. Die Männer standen beieinander und unterhielten sich über die beste Route, die natürlich vorher auch schon hundertfach besprochen war. Einer furzte vielleicht, sagte: "Altes Kriegsleiden!" und alle lachten dann und wir Kinder durften dabei sein, es war herrlich, es war alles anders, es war Urlaub. Die Frauen unterhielten sich über den Reiseproviant und Tabletten gegen Reisekrankheit und wie sie darüber redeten, erweckte den Eindruck, als sei das die Geißel der Menschheit. Dann ging eine nochmals zum Pinkeln, dann die andere nach kurzem Zögern auch, schließlich waren alle Damen unter zunehmendem Gemurre ihrer Gatten entleert und es konnte losgehen.

Onkel Heinz fuhr Audi 80 mit Nummernschildkissen und Klorollenabdeckung, die anderen Opel Rekord oder Commodore. Die Männer saßen am Steuer, Gestik und Gesicht als fühlten sie sich wie Piloten viermotoriger Bomber. Ein Konvoi von drei oder vier Fahrzeugen setzte sich in Bewegung und hätte das Brummen der Motoren nicht alles übertönt, ich schwöre, man hätte die Musik gehört. Ein bisschen was mit Posaunen, viel Quarten und Quinten, Pauken natürlich, "Also sprach Zarathustra" und irgendwas für einen Film mit Hardy Krüger: Wir waren unterwegs!

Der erste Durchfall, das erste Bauchweh, der erste Krach der Eltern Lichtjahre entfernt. Wir waren unterwegs, da draußen gab es eine herrliche Welt, die sich hinter den Scheiben des Autos entrollte. Und wer weiß, vielleicht, ach was: ganz, ganz sicher würden wir etwas entdecken, einen See, eine Höhle, eine Burg, eine alten Pfeilspitze, ein rostiges Schwert oder wenigstens ein paar echte Knochen. Die Welt war voller Wunder und so schön, dass es beim Schlucken ein bisschen weh tat.

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