18.08.12

Verliebt in Freiburg

Wunder und mehr
Gefürchtete Kurzgeschichten I


"Hör mir doch auf mit deinem Clairvaux, der alte Sack hat ja nun wirklich gar nichts mehr zu melden!"

"Ahnung hatte er schon..."

"Aber genützt hat's ihm nichts!"

Jupp kicherte durch die Nase. Es war ein Sommermorgen am Münsterplatz. Eine stürmische Nacht hatte all die Wolken der vergangenen Tage beiseite gefegt. Das Münster hatte dumpf brummend vibriert wie eine große Maschine, als läge etwas in der Luft. Die ersten Frühaufsteher errichteten eben noch leicht fröstelnd ihre Marktstände. Karl, Jupp und ich waren in eine unserer üblichen Unterhaltungen vertieft. Wobei man sagen muss, dass unsere üblichen Unterhaltungen sich vor allem durch sehr, sehr lange Pausen auszeichnen. Wir haben ja Zeit, wir drei, fast alle Zeit der Welt.

Mir fiel ein alter, weißer Transporter auf, wohl ein FORD TRANSIT. Den hatte ich zuvor noch nie gesehen. Eine mit Schal, Mütze und Strickjacke vermummte Gestalt hüpfte heraus und begann flink, Blumenkübel und Gestecke zu einem geschmackvoll dekorierten Marktstand aufzubauen. Sie war alleine bei der Arbeit und aus dem Augenwinkel beobachtete ich anmutige Bewegungen.

"Aha, eine Neue auf dem Markt" , sagte Karl.

"Mhm", stimmte Jupp zu.

Ich schielte nach der Beschriftung des Wagens. MARISA BUONAROTTI, FLORISTIK konnte ich aus der Entfernung entziffern. Mein Herz schlug sofort höher bei dem Namen und ich bekenne freimütig, dass meine Kollegen oft nicht ganz zu Unrecht darüber scherzen, ich alter Drachen hätte im Kern ein Herz aus Stein. FLORISTIK stand da, Gott sei Dank nicht BLUMEN UND MEHR. Wie ich dieses vage UND MEHR hasse! Was mehr? MEHR im Sinne von: BIRGIT SCHÄUFELE, FUSSPFLEGE UND HANDFEUERWAFFEN? JEAN-LUC HOFFMAN, SCHREIBWAREN UND SKLAVEN? Oder PETER BLOCK, GRAFIK UND WURSTBROTE? Noch schlimmer wäre nur MARISAS BLUMENLÄDELE gewesen. Aber nein, da stand treffend und wahr FLORISTIK. Das hatte Stil und Eleganz, klang etwas stolz vielleicht. Allein der Name BUONAROTTI ist einem wie mir stallwarme Heimat. Mein Interesse war geweckt.

"Nett, hm?"

Das war wieder Karl. Der alte Narr hielt seine paar Schläfenflusen für eine Löwenmähne und sich für den soignierten Herrn. Ich ignorierte ihn, schließlich hatte ich sie zuerst entdeckt. Für ein abschließendes Urteil war es etwas zu früh, aber seinem selbst erklärten Fachverstand wollte ich sie auch nicht überlassen.

"Da, der Biobauer...", brummte ich dann und deutete mit den Augen auf einen anderen Stand. "Auch mal wieder da."

"Bio!", schnaubte Karl sofort.

Gute List, dachte ich.

"Was die heute Bio nennen", schimpfte Karl weiter, "das war früher normal. Einfach anbauen ohne Gift."

"Dein früher ist aber eine halbe Ewigkeit her", mischte sich Jupp ein.

"Oh, das Froschmaul mokiert sich über meine landwirtschaftlichen Ansichten!"

"Nicht immer gleich persönlich werden, Karl", mahnte ich ihn und sah zum Blumenstand der Marisa Buonarotti. Just in diesem Moment nahm sie ihren Schal ab und riss sich in einer formvollendeten Parabel die Mütze vom Kopf, schüttelte die dicken, schwarzen Strähnen aus ihrer bleichen Stirn, so dass ich ihr Gesicht sah.

Wenn ich sage: "Es traf mich wie ein Blitz!", so ist das keine leere Phrase oder schamlose Übertreibung, zu der die Menschen heute mit all ihrem "Mega", "Super", "Wahnsinn" neigen. Was ich da im Laufe nur eines Tages zu hören kriege! Hemmungslos wird aufgeblasen, was sich mit ein paar anderen Worten so simpel beschreiben ließe. Vielleicht wollen sie ihr kleines Leben dadurch größer machen, wichtiger. Ich halte das für dumme Eitelkeit. Zugegeben, der mir von den Kollegen unterstellte Hang zur Misanthropie ist latent vorhanden. Andererseits, was kümmert mich das Geschwätz dieser alten, versteinerten Säcke? Ich bleibe also dabei: "Es traf mich wie ein Blitz!", und ich kenne mich mit Blitzen aus.

Sie war eine Schönheit. Dunkles Haar umrahmte ihr blasses Gesicht. Das Marmor war, weiß wie Neuschnee. Hohe Wangen, feine Nase, große Augen, dunkel und verheißungsvoll, die bei einem freundlichen Nicken Richtung Kundschaft für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzten wie die Sonne durchs Blätterwerk einer Linde im Sommer. Ihr Mund hatte die Form einer köstlichen Frucht, deren Namen man nicht kennt, aber von alten Kupferstichen weiß, die aus Zeiten stammen, als die Welt noch voller Wunder war. Ich ließ sie keinen Moment mehr aus den Augen, sah ihre schlanken Finger Sträuße binden, beobachtete sie beim Reden und Verhandeln, saugte jede Bewegung in mich auf. Die Sonne brachte Wärme und Marisa Buonarotti legte erst ihre Strickjacke ab, eine halbe Stunde später auch ihr viel zu großes Karohemd. Jetzt stand sie da in Unterhemd und engen, blauen Hosen und ich konnte nur gaffen. Lange Beine, ein prächtiger Hintern, sehnige Arme und, Herr im Himmel: zwei anbetungswürdige kleine Kuppeln wölbten den weißen Doppelripp. Man müsste sie in Stein hauen, so atemberaubend waren ihre Proportionen.

"Na, hab ich's nicht gesagt?", hob der idiotische Kurt wieder an. "Ein Weib wie aus dem Bilderbuch! Die Sünde in Person!"

 "Ach, halt doch dein dummes Maul, Quadratschädel!", fuhr ich ihn an.

"Holla!", feixte Jupp. " Sprießen da zarte Blättchen aus unseres Freundes Herz?"

"Und sei du Wurm grad' auch still!", schnauzte ich.

Zarte Blättchen sprossen aber in der Tat. Wie lange war ich schon alleine? Es mussten Jahrhunderte sein. Ich wünschte mir nichts mehr, als einen Blick von ihr, nur einen Blick und dass sie meine Anwesenheit bemerkte, mich aus der Bedeutungslosigkeit hob durch einen Moment ihrer Aufmerksamkeit. Doch Marisa Buonarotti war zu beschäftigt. Endlos schien der Strom der Passanten. Fast jeder verharrte einen Moment an ihrem Stand, nicht selten, um nach einem verwirrten Blick auf Blumen und Verkäuferin mit irritiertseligem Gesicht weiter zu treiben über den Platz. Was hätte ich gegeben für ein Lächeln, ein sanftes Wort aus diesem Mund mit den ebenmäßigen Zähnen, ach, Perlen waren's, Perlen aus der dunklen Tiefe eines unbekannten Ozeans.

Und dann brach plötzlich für einen kurzen Moment der Strom der Menschen ab. Eine kleine Lücke im Gewühl. Marisa Buonarotti reckte sich, dehnte die Arme weit hinter den Kopf. Ich sah ihre Brüste frech gegen den dünnen Stoff des alten Unterhemds drücken. Sie gähnte kurz, öffnete die Augen wieder und - sah mir ins Gesicht. Das Universum stand still, kein Molekül bewegte sich. Sie legte ihren Kopf leicht schief, ihr Blick war fragend. Ihre Lippen öffneten sich ganz langsam, sie lächelte. Marisa Buonarotti lächelte mich an! Dann sagte sie: "Ciao, caro!" und warf mir eine Kusshand zu.

Als ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte, war der Münsterplatz fast leer. Die Marktstände waren verschwunden, nur eine Handvoll tratschender Amerikaner zottelte über das alte Pflaster.

"Now ain't that old Munster terrific, darling", sagte eine dicke Frau in kurzen Outdoorhosen und Sandalen.

"Pretty dark after all that Rokoko in... wasn't it Swannstine", antwortete ihr Mann in Anglerweste und Wanderstiefeln.

Sie watschelten davon und das Gemurmel verhallte. Ich schielte zu Jupp und Karl. Beide hielten sie das Maul. Gut! Sie hatten es also registriert, das Wunder von Marisa. Eine Taube ließ sich auf Kurts Kopf nieder und sah träge zum Brunnen hinunter. Dann flog sie gelangweilt weiter und kackte ihm auf die Mähne. Jupp schnaubte wieder sein Kichern durch die Nase.

"Also, nochmal wegen Clairvaux", begann er dann. "Kann sich denn keiner erinnern, ob das am dritten oder am vierten Dezember gewesen sein soll?"

"Bei aller Liebe, elfsechsundvierzig, Jupp, da waren wir noch nicht mal in Planung!"

"Was sagt denn unser Don Juan", wandte Jupp sich an mich.

Ich schenkte ihm ein mildes Lächeln.

"Er war an beiden Tagen da, Jupp."

"Nein", machte der fassunglos.

"Ja", machte ich geduldig.

"Na also", machte Kurt.

Und dann plauderten wir über das Münster und die Freiburger, das Leben, die Liebe und die Taubenscheiße. Wie in alten Zeiten mit langen Unterbrechungen, versteht sich. Ach, es ist herrlich verliebt zu sein! Noch schöner, verliebt in Freiburg zu sein. Und vielleicht sehe ich sie morgen wieder, oder nächste Woche. Oder in hundert Jahren. So abwartemäßig echt Wahnsinn: wir haben total supermega viel Zeit hier oben, wir Wasserspeier an der Nordseite des Langhauses.

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